Aufgepasst…bei Medikamenten am Steuer !

Kaum jemand denkt daran, dass Medikamente beim Autofahren ein Problem sein könnten. Doch sogar manches rezeptfreie Mittel BEEINTRÄCHTIGT DAS FAHRVERHALTEN.Besonders gefährlich: wenn zum Medikamentenmix Alkohol getrunken wird.

TEXT DR. SAMUEL STUTZ

Bild: Gefährlich! Wer Medikamente nimmt und fährt, muss sich vorher über die Nebenwirkungen informieren.

Unerwünschte Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten im Strassenverkehr, im Beruf, bei Freizeitaktivitäten und im Sport sind ein unterschätztes Risiko. Rund ein Siebtel aller zugelassenen Arzneimittel können nach Angaben ihrer Hersteller die Fahrtüchtigkeit und andere Tätigkeiten, die ein schnelles Reaktions-vermögen erfordern, beeinträchtigen. Dabei handelt es sich nicht nur um Medikamente wie Schlaf-, Beruhigungsmittel, Antidepressiva und Antipsychotika, sondern auch um gängige, rezeptfreie Schmerz-, Grippe-, Fieber-, Schlaf- und Allergiemittel. Besonders die Kombination solcher Arzneimittel – etwa ein Schmerzpräparat und ein Grippe- oder Hustenmittel – sowie der zusätzliche Konsum von Alkohol beeinträchtigt das Fahrverhalten so stark, dass sich der Reaktionsweg ohne Weiteres verdoppeln kann. Aber auch Müdigkeit, Sehstörungen und aggressives Fahrverhalten können Auswirkungen von Medikamenten sein. Auf der anderen Seite verbessert eine korrekte Medikation die Fahrtüchtigkeit vieler Patienten, weil die Symptome einer Krankheit gelindert oder sogar eliminiert werden. Beim Fahren unter dem Einfluss von üblichen benzodiazepinhaltigen Schlaf- und Beruhigungsmitteln muss von einer Beeinträchtigung wie mit 0,5 Promille Blutalkohol ausgegangen werden. Eine Tatsache, die kaum je einkalkuliert wird. Dies ist umso gravierender, wenn man bedenkt, wie verbreitet die Einnahme dieser Schlaf- und Beruhigungsmittel in der Schweiz ist. Man schätzt denn auch, dass rund 200 000 Menschen in der Schweiz ein problematisches MedikamentenKonsumverhalten haben. Man findet ganz unterschiedliche Angaben zur Häufigkeit. Das sind die offiziellen Zahlen in der Schweiz: In den Jahren 2002 bis 2006 waren 161 Motorfahrzeuglenker, Velofahrer und Fussgänger unter Medikamentenverdacht in schwere Unfälle mit Schwerverletzten oder Getöteten verwickelt. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Es betrifft sowohl Männer wie Frauen, allerdings mit unterschiedlichen Medikamentengruppen. Typischerweise besitzt eine unter Medikamentenverdacht stehende Person ihren Führerausweis seit mehr als zehn Jahren. Rund die Hälfte der Verdächtigen verursachte einen Selbstunfall.Es denkt kaum jemand daran, dass ein Medikament ein Problem beim Autofahren sein könnte. Achtung: Unkenntnis schützt vor Gericht nicht! Wer Medikamente einnimmt, handelt fahrlässig, wenn er sich nicht über die Wirkung informiert. Das Fahren zum Beispiel unter Schlafmitteleinfluss kann eine schwere Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz sein, die den Führerausweisentzug und ein Strafverfahren zur Folge hat. Wer Medikamente nimmt, ist gesetzlich verpflichtet, sich darüber zu informieren, ob das betreffende Präparat die Sicherheit beim Autofahren beeinträchtigt. Es hilft nicht, darauf hinzuweisen, dass der Arzt oder Apotheker vergessen hat zu informieren. Fehlen die Informationen, ist es Aufgabe des Patienten, nach Informationen zu verlangen. Vorsicht ist schon deshalb geboten, weil die meisten Wirkstoffe heute nachweisbar sind und die Polizei bei Verdacht auf Medikamenteneinwirkung Blutproben veranlassen kann. Neben dem Rat des Arztes oder Apothekers gibt es neu eine Internetsite zur Risikoabschätzung von Medikamenten im Strassenverkehr, beim Bedienen von Maschinen oder im Sport. Diese Medikamentenplattform ist neutral und unabhängig. Sie wird laufend aktualisiert und beruht auf den offiziellen Publikationen von Swissmedic und dem Bundesamt für Gesundheit sowie den geprüften und zugelassenen Medikamenteninformationen. Mehr zum Thema mymedi.ch

So wirken Medikamente
Benzodiazepinhaltige Schlaf- und Beruhigungsmittel beeinträchtigen fast ausnahmslos das Fahrverhalten sowie das Bedienen von Maschinen. Eine Gewöhnung scheint es nicht zu geben oder nur sehr begrenzt. Auch nach einjähriger Einnahme ist das Unfallrisiko noch signifikant erhöht. Zudem führt die Langzeiteinnahme zu intellektuellen Defiziten, die sich auch nach Absetzen nicht vollständig zurückbilden.Antihistaminika haben als frei verkäufliche Schlafmittel eine Bedeutung. Sie wirken sich schon nach einmaliger Einnahme negativ auf die Fahrtüchtigkeit aus. Antidepressiva haben je nach Typus ein unterschiedliches Gefährdungspotenzial. Deshalb muss sich jeder, der solche Substanzen einnimmt, informieren.Antipsychotika wirken meistens stark dämpfend und führen zu muskulären Defiziten. Besonders bei Therapiebeginn und bei höheren Dosen sind diese Effekte stark ausgeprägt. Auf der anderen Seite haben diese Medikamente eine wichtige therapeutische Funktion. Wer sie nimmt, muss unbedingt mit dem Arzt die Verkehrstauglichkeit klären.Opiathaltige Schmerzmittel beeinträchtigen vor allem in der Anfangsphase die Hirnfunktionen und wirken dämpfend. Relativ schnell setzt aber eine Adaptation ein, sodass stabil auf Opiate eingestellte Patienten kein erhöhtes Unfallrisiko haben. Bei Kombination von mehreren Arzneimitteln ist mit einem additiven oder sogar multiplikativen Effekt zu rechnen. Die Wirkungen sind sehr schwer vorauszusagen. Auf die gleichzeitige Einnahme von Alkohol muss unbedingt ganz verzichtet werden.

Zahlen und Fakten
Eine schweizerische Studie aus dem Jahr 2010 zeigt, dass von allen Fahrzeuglenkern, welche den Ver-dacht der Polizei auf Drogen- oder Medikamenteneinfluss erweckt haben, unabhängig davon, ob sich ein Unfall ereignet hat oder nicht, 89 Prozent effektiv unter Einfluss einer oder mehrerer psychoaktiven Substanzen unterwegs waren. Die meistdetektierten Substanzen waren Haschisch oder Marihuana beziehungsweise deren Abbauprodukte (48 %), gefolgt von Alkohol (35 %), Kokain (25 %), Opiaten (10 %), Amphetaminen (7 %) Benzodiazepinen (Beruhigungs- und Schlafmittel) (6 %) und dem Heroinersatzstoff Methadon (5 %). In vielen Fällen wurden mehrere Substanzen in Kombination gefunden. Aufgrund des Auswahlverfahrens («Lenkende mit Verdacht auf Drogen und Medikamente») erscheinen die Anteile der Fahrzeuglenker unter Einfluss von psychoaktiven Substanzen als sehr hoch. Ein anderes Bild ermitteln zum Beispiel Erhebungen am Strassenrand (Roadside-Surveys). Gemäss des in den Jahren 2006 bis 2008 in der Romandie durchgeführten Roadside-Surveys standen 4,3 Prozent der Fahrer unter Einfluss von Drogen und 9,6 Prozent unter Einfluss von Medikamenten, welche die Fahrfähigkeit einschränken können. Alkohol wurde bei 4,7 Prozent der geprüften Lenker nachgewiesen.